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29.Mai.
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Ich habe schon sehr lange nicht geschrieben, Du wirst
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Dich, fürchte ich, schon kränken. Sehr schön war es, Deine
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Stimme zu hören, leider hattest Du nicht viel davon.
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Heute stehe ich immer noch unter dem Eindruck des gest
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Ausflugs nach rigenKirchstetten wohin ich Fritz Heer verabredeter-
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maßen zum Essen mitnahm. Diese manisch-depressive Genie,
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dieser innerlich verschreckte Lausbub Friedrich Heer, und der
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grosse englische Dichter Auden, von Kallman ganz zu schweigen -
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wie würde das gehen? Es ging großartig. Fritz war wie ein aus
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dem Gefängnis entlassener Mensch. Monatelang kommt er nicht aus
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der Arbeitsroutine heraus, er freute sich so über das satte Grün
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des Wienerwalds, über die Akazienbäume die immer wieder silbern
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schimmernd aus dem dü nkleren Hintergrund herausleuchteten, ü ber
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die gute Luft, die klare Sicht nach dem Sturm vor zwei Tagen.
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Ich habe ein wenig Angst gehabt, die beiden Großredner1/2 würden
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gleichzeitig oder aneinander vorbeireden, aber das taten sie
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nur manchmal: sie wollten von einander etwas erfahren,
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konnten aber natürlich nur immer wieder große Themen streifen,
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Anekdoten erzählen und so. Jedenfalls war die Stimmung herrlich,
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Fritz entpuppte sich als begabter "mimic", der nicht nur Hitler
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zum besten nachmachen konnte, das können viele, sondern auf
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ganz unheimliche Weise Mussolini dem er plötzlich unglaublich
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ähnlich sah. Hatte er also die verdorbenen deutschen und
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italienischen Sprachen illustriert, so ging er später auf die
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französischen Intellektuellen los: ein zimperlich-geschwollene s
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Gespräch zwischen Gide und Claudel. Es wurde über Wagners
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Texte gesprochen, über Liturgie-Reform, über Weinheber, Rudolf
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Kassner und Freud - überidiese drei hatte Fritz persönliche
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Erlebnisse zu berichten gehabt. Wenn ich Fritz beobachte, kann
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es sehr oft vorkommen, daß ich sein Gehaben mit den Augen der
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Konvention sehe, ohne diese Vor urteile zu empfinden - wenn
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Du das irgendwie verstehen kannst. So hat er, als Auden ihn
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begrüßte, ihm die Hand geküßt, und das war einerseits "unmöglich"
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und grenzte auch tatsächlich ans Lächerliche, wa r es aber doch
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nicht, weil Fritz einfach aus allen Kategorien, in die man ihn
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hineinpressen möchte, herausplatzt. Die Erklärung dafür, daß
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er doch nicht ganz lächerlich wirkt, ist die Natürlichkeit, die
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kind liche Freude, die er empfindet, im gegeben Fall das plötzliche
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und völlig unaffektierte Bedürfnis, einen großen Mann zu
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huldigen. Interessant, daß Heer mit der Droste-Hülshoff und
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auch mit Bertha Suttner verwandt ist.
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Ohne Zweifel liegt in und um das Wesen Heers etwas Tragisches.
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Er ist ebenso unentbehrlich wie unbrauchbar. Seine große Linie
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stimmt, die Details nicht, das geht für seine geistige Arbeit
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wie für seine Persönlichkeit. Die akademische Welt, wo immer
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sie von sturer, g radliniger Mittelmäßigkeit (wie in Wien)
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beherrscht wird, empört sich und schiebt ihn von sich: er ist
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frivol, frevelhaft, frech, unorthodox, unberechenbar und - fast
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übertreibe ich da ein bißl - im soziologisch-biologischen Sinne
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artfremd. Aber nicht nur in Österreich: er sagte mir, vor
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kurzem sagte ihm ein deutscher Universitätsprofessor ("er konnte
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es sagen, weiler Naturwissenschaftler ist"): "Sie müssen es
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mir glauben, daß es sich kein deutsches Professorenkollegium
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leisten kann, Sie zu sich zu nehmen." Ist er einfach zu
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unbequem? Was aber seine Person enbelangt, so empfindet er es
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als weitaus schwieriger, mit sich selbst auszukommen, als
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dies für d ie Mitmenschen der Fall ist. "Ich bin noch immer das
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verschreckte, verheulte Kind, das sich irgendwie durchschlagen
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mußte. Ich bin nie reif geworden. Ich heiratete zu früh, für
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die Ehe völlig unreif, mußte kämpfen, um meine F amilie zu
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ernähren und hatte nie Zeit und Ruhe, um nachzudenken...
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ein völliges Versagen... Mein Leben lang ringe ich mit dem
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Tod, kämpfe ich gegen Selbstmordgedanken... Ich bin passé:
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man schreibt aus meinen alten Arbeiten kommentarlos ab"usw. usf.
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Diese und ähnliche Dinge erzählte er mir auf der Rückfahrt,
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wo ich eine ruhige Nebenstrasse nach Wien wählte und langsam
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gefahren bin, aber inmitten dieser Depression war er immer wieder
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über die schöne Natur glücklich, über ruhige Dörfer und hübsche
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Häuser. sprach über diesen uralten Kulturboden, "wo die Leute
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noch heute Sachen tun, die vier, fünf Jahrtausende zurück
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reichen, und sie wissen es nicht."
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Des Rätsels Lösung, des fast überentwickelten Geistes neben
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der zerrissenen, ungleichmäßig ausgereiften Persönlichkeit,
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kennt er selbst, oder wenigstens zum Teil. Es liegt i m
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Entsetzen des 4-jährigen Kindes und in den seelischen
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Entbehrungen, die die Scheidung seiner Eltern verursachte.
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Ärgerst Du Dich schon darüber, daß ich so viel über Fritz
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Heer schreibe und wahrscheinlich deshalb weniger über andere
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Dinge weil die Zeit fehlen wird? Ich tue es teils weil ich
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Dir darüber erzählen möchte, teils als eine Art von self-
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expression, weil mich der Mann seit 20 Jahren interessiert, seit
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ich seine Stimme zum ersten Mal 1948 in der "Furche" hörte.
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Damals habe ich sofort gewusst: hier ist etwas Gr oßes, das wir
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jetzt brauchen wie ein bißchen Brot. (Damals keine abgedroschene
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Phrase.) Und er ist auch für Dich interessant: ich liefere
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Dir gern Zeugnisse, daß es Menschen gibt - Österreicher! - dem
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die nötigen Eigenschaften, die Zutaten aus dem ein Faschist
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geformt werden kann, gänzlich fehlen. Plötzlich sagte er mir
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strahlend: "Kallman hat mir er zählt, seine Vorfahren
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waren Juden aus Riga... Juden aus Riga." Aus irgend einen Grund
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freute ihn das enorm, und gleich kreisten seine Gedanken
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in weiß Gott was für Konvolutionen. Ach ja, jetzt weiß ich
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warum, er hat in Riga studiert und kannte wahrscheinlich jüdische
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Menschen dort.
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Also Schluß. Pfingsten: fast durchwegs herrliches Wetter,
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es war zum T. Besuch draussen, u.a. Sony, ihre Mutter und die
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Amélie. Marko und ich sind Samstag vormittag hinaus- und
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erst Dienstag am späten Nachmittag hereingefahren. Ich habe
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einen sehr netten Brief vom foreign editor der Financial Times
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bekommen, in dem er sagt, er ist mit meiner Arbeit sehr
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zufrieden und war auch darüber freudig überrascht, daß ich
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imstande bin, in ih rem Stil zu schreiben - "wenigen gelingt es".
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Jetzt will ich Deine Fragen beantworten und sonst noch schauen
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was in Deinem letzten Brief steht. Die grande toilette der Eva
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für Schönbrunn war - ich kann Kleider so schlecht schildern -
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ein bis zum Boden reichendes Kleid in sanft grüner Farbe, aus
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mit winzigen Perlen besticker, schwerer Seide. Der Mantel
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mit ein wenig hochstehendem Kragen war aus dem gleichen aber
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unbesticktem Stoff. Mein eigenes Kleid für die Oper war leider
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auch grün, ganz schlicht, gold-lurex Art, mit Seitenschlitz
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links bis zum Knie. Für den makellosen Teint der Königin ist
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Veranlagung verantwortlich, ich habe selten jemanden mit einem
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so herrlichen Teint gesehen wie seinerzeit ihre Mutter,
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und diesen hat auch die Prinzessin Anne gee rbt.
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Daß Deine Haut im Augenblick in keinem guten Zustand ist,
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ist sehr ärgerlich und ich frage mich, was die Ursache sein
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könnte.
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Daß Du Schuppen hast, habe ich nie gemerkt, aber nimm
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doch einen guten Schuppen-Schaumpon. Freilich kann das alles
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mit dem Alter zu tun haben. Freuen wir uns auf den Teint, den
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Du nachher haben wirst... Ich will mir Livias Stimme, wie sie