Typed Letter Stella Musulin to [Edith Silbermann] 1969-05-29

PIDhttps://hdl.handle.net/21.11115/0000-000E-C33A-5
AuthorMusulin, Stella
Editor(s)
  • Mayer, Sandra
  • Frühwirth, Timo
  • Grigoriou, Dimitra
PublisherAustrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage, Vienna 2021
Licence(s)
Source Information
  • State Collections of Lower Austria
  • Stella Musulin (Depot)
  • St. Pölten
Origin
  • 1969-05-29
  • Austria
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Cite this Source (MLA 9th Edition)Andorfer Peter, Elsner Daniel, Frühwirth Timo, Grigoriou Dimitra, Mayer Sandra, Mendelson Edward and Neundlinger Helmut. Auden Musulin Papers: A Digital Edition of W. H. Auden's Letters to Stella Musulin. Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage, Austrian Academy of Sciences, 2022, amp.acdh.oeaw.ac.at .

                                   29.Mai.


     Ich habe schon sehr lange nicht geschrieben, Du wirst
Dich, fürchte ich, schon kränken.  Sehr schön war es, Deine
Stimme zu hören, leider hattest Du nicht viel davon.

     Heute stehe ich immer noch unter dem Eindruck des gestrigen
Ausflugs nach Kirchstetten wohin ich Fritz Heer verabredeter-
maßen zum Essen mitnahm.  Diese manisch-depressive Genie,
dieser innerlich verschreckte Lausbub Friedrich Heer, und der
grosse englische Dichter Auden, von Kallman ganz zu schweigen -
wie würde das gehen?  Es ging großartig.  Fritz war wie ein aus
dem Gefängnis entlassener Mensch.  Monatelang kommt er nicht aus
der Arbeitsroutine heraus, er freute sich so über das satte Grün
des Wienerwalds, über die Akazienbäume die immer wieder silbern
schimmernd aus dem dünkleren Hintergrund herausleuchteten, über
die gute Luft, die klare Sicht nach dem Sturm vor zwei Tagen.
Ich habe ein wenig Angst gehabt, die beiden Großredner würden
gleichzeitig oder aneinander vorbeireden, aber das taten sie
nur manchmal:  sie wollten von einander etwas erfahren,
konnten aber natürlich nur immer wieder große Themen streifen,
Anekdoten erzählen und so.  Jedenfalls war die Stimmung herrlich,
Fritz entpuppte sich als begabter "mimic", der nicht nur Hitler
zum besten nachmachen konnte, das können viele, sondern auf
ganz unheimliche Weise Mussolini dem er plötzlich unglaublich
ähnlich sah.  Hatte er also die verdorbenen deutschen und
italienischen Sprachen illustriert, so ging er später auf die
französischen Intellektuellen los:  ein zimperlich-geschwollenes
Gespräch zwischen Gide und Claudel.  Es wurde über Wagners
Texte gesprochen, über Liturgie-Reform, über Weinheber, Rudolf
Kassner und Freud - überidiese drei hatte Fritz persönliche
Erlebnisse zu berichten gehabt.  Wenn ich Fritz beobachte, kann
es sehr oft vorkommen, daß ich sein Gehaben mit den Augen der
Konvention sehe, ohne diese Vorurteile zu empfinden - wenn
Du das irgendwie verstehen kannst.  So hat er, als Auden ihn
begrüßte, ihm die Hand geküßt, und das war einerseits "unmöglich"
und grenzte auch tatsächlich ans Lächerliche, war es aber doch
nicht, weil Fritz einfach aus allen Kategorien, in die man ihn
hineinpressen möchte, herausplatzt.  Die Erklärung dafür, daß
er doch nicht ganz lächerlich wirkt, ist die Natürlichkeit, die
kindliche Freude, die er empfindet, im gegeben Fall das plötzliche
und völlig unaffektierte Bedürfnis, einen großen Mann zu
huldigen.  Interessant, daß Heer mit der Droste-Hülshoff und
auch mit Bertha Suttner verwandt ist.

     Ohne Zweifel liegt in und um das Wesen Heers etwas Tragisches.
Er ist ebenso unentbehrlich wie unbrauchbar.  Seine große Linie
stimmt, die Details nicht, das geht für seine geistige Arbeit
wie für seine Persönlichkeit.  Die akademische Welt, wo immer
sie von sturer, gradliniger Mittelmäßigkeit (wie in Wien)
beherrscht wird, empört sich und schiebt ihn von sich: er ist
frivol, frevelhaft, frech, unorthodox, unberechenbar und - fast
übertreibe ich da ein bißl - im soziologisch-biologischen Sinne
artfremd.  Aber nicht nur in Österreich:  er sagte mir, vor
kurzem sagte ihm ein deutscher Universitätsprofessor ("er konnte
es sagen, weiler Naturwissenschaftler ist"):  "Sie müssen es
mir glauben, daß es sich kein deutsches Professorenkollegium
leisten kann, Sie zu sich zu nehmen." Ist er einfach zu
unbequem?  Was aber seine Person enbelangt, so empfindet er es

als weitaus schwieriger, mit sich selbst auszukommen, als
dies für die Mitmenschen der Fall ist.  "Ich bin noch immer das
verschreckte, verheulte Kind, das sich irgendwie durchschlagen
mußte.  Ich bin nie reif geworden.  Ich heiratete zu früh, für
die Ehe völlig unreif, mußte kämpfen, um meine Familie zu
ernähren und hatte nie Zeit und Ruhe, um nachzudenken...
ein völliges Versagen...  Mein Leben lang ringe ich mit dem
Tod, kämpfe ich gegen Selbstmordgedanken...  Ich bin passé:
man schreibt aus meinen alten Arbeiten kommentarlos ab"usw. usf.
Diese und ähnliche Dinge erzählte er mir auf der Rückfahrt,
wo ich eine ruhige Nebenstrasse nach Wien wählte und langsam
gefahren bin, aber inmitten dieser Depression war er immer wieder
über die schöne Natur glücklich, über ruhige Dörfer und hübsche
Häuser. sprach über diesen uralten Kulturboden, "wo die Leute
noch heute Sachen tun, die vier, fünf Jahrtausende zurück
reichen, und sie wissen es nicht."

     Des Rätsels Lösung, des fast überentwickelten Geistes neben
der zerrissenen, ungleichmäßig ausgereiften Persönlichkeit,
kennt er selbst, oder wenigstens zum Teil.  Es liegt im
Entsetzen des 4-jährigen Kindes und in den seelischen
Entbehrungen, die die Scheidung seiner Eltern verursachte.

     Ärgerst Du Dich schon darüber, daß ich so viel über Fritz
Heer schreibe und wahrscheinlich deshalb weniger über andere
Dinge weil die Zeit fehlen wird?  Ich tue es teils weil ich
Dir darüber erzählen möchte, teils als eine Art von self-
expression, weil mich der Mann seit 20 Jahren interessiert, seit
ich seine Stimme zum ersten Mal 1948 in der "Furche" hörte.
Damals habe ich sofort gewusst:  hier ist etwas Großes, das wir
jetzt brauchen wie ein bißchen Brot.  (Damals keine abgedroschene
Phrase.)  Und er ist auch für Dich interessant:  ich liefere
Dir gern Zeugnisse, daß es Menschen gibt - Österreicher! - dem
die nötigen Eigenschaften, die Zutaten aus dem ein Faschist
geformt werden kann, gänzlich fehlen.  Plötzlich sagte er mir
strahlend:  "Kallman hat mir erzählt, seine Vorfahren
waren Juden aus Riga... Juden aus Riga."  Aus irgend einen Grund
freute ihn das enorm, und gleich kreisten seine Gedanken
in weiß Gott was für Konvolutionen.  Ach ja, jetzt weiß ich
warum, er hat in Riga studiert und kannte wahrscheinlich jüdische
Menschen dort.

     Also Schluß.  Pfingsten:  fast durchwegs herrliches Wetter,
es war zum T. Besuch draussen, u.a. Sony, ihre Mutter und die
Amélie.  Marko und ich sind Samstag vormittag hinaus- und
erst Dienstag am späten Nachmittag hereingefahren.  Ich habe
einen sehr netten Brief vom foreign editor der Financial Times
bekommen, in dem er sagt, er ist mit meiner Arbeit sehr
zufrieden und war auch darüber freudig überrascht, daß ich
imstande bin, in ihrem Stil zu schreiben - "wenigen gelingt es".
Jetzt will ich Deine Fragen beantworten und sonst noch schauen
was in Deinem letzten Brief steht.  Die grande toilette der Eva
für Schönbrunn war - ich kann Kleider so schlecht schildern -
ein bis zum Boden reichendes Kleid in sanft grüner Farbe, aus
mit winzigen Perlen besticker, schwerer Seide.  Der Mantel
mit ein wenig hochstehendem Kragen war aus dem gleichen aber
unbesticktem Stoff.  Mein eigenes Kleid für die Oper war leider
auch grün, ganz schlicht, gold-lurex Art, mit Seitenschlitz
links bis zum Knie.  Für den makellosen Teint der Königin ist
Veranlagung verantwortlich, ich habe selten jemanden mit einem
so herrlichen Teint gesehen wie seinerzeit ihre Mutter,
und diesen hat auch die Prinzessin Anne geerbt.

     Daß Deine Haut im Augenblick in keinem guten Zustand ist,
ist sehr ärgerlich und ich frage mich, was die Ursache sein
könnte.  Daß Du Schuppen hast, habe ich nie gemerkt, aber nimm
doch einen guten Schuppen-Schaumpon.  Freilich kann das alles
mit dem Alter zu tun haben.  Freuen wir uns auf den Teint, den
Du nachher haben wirst...  Ich will mir Livias Stimme, wie sie

Liebling

Stella Musulin's son, Marko Musulin (in an email from 15 February 2022), and the niece of Edith Silbermann, Amy-Diana Colin (in a personal interview conducted in 2022), have identified the addressee of this letter as Edith Silbermann. In the introduction to her book Paul Celan - Edith Silbermann: Zeugnisse einer Freundschaft: Gedichte, Briefwechsel, Erinnerungen, Colin outlines the close acquaintance between Silbermann and Janko and Stella Musulin.

    • Colin Amy-Diana
    • Edith Silbermann
    • Paul Celan - Edith Silbermann: Zeugnisse einer Freundschaft: Gedichte, Briefwechsel, Erinnerungen
    • Wilhelm Fink
    • Munich
    • 2010
    • 978-3-7705-4842-2
    • 9-20

External Evidence: ph_014

zum T.

According to Stella Musulin's son, Marko Musulin (in an email from 25 October 2022), "T." stands for "Tee" ("tea").

  • Marko Musulin
  • AW: Frage zu genannten Namen, received by Timo Frühwirth
  • 2022-10-25

External Evidence: ph_015

Schaumpon

In 1919, the German-based cosmetics company Schwarzkopf translated and adapted the English-language "shampoo" into "Schaumpon", which was subsequently used as a product name. Stella Musulin's use of the word in her letter may be indicative of colloquial trademark genericization.

External Evidence: ph_016

Schönbrunn | Oper

According to the article "'Fledermaus' und Speck: Die Queen in Österreich" in Die Presse from 9 September 2022, Queen Elizabeth II attended a gala dinner at Schönbrunn Palace on 5 May 1969, which is the day of her arrival in Austria for her 1969 state visit. The media archive of the Vienna State Opera records her attendance of a special performance of "Die Fledermaus" on 6 May 1969.

External Evidence: ph_020

draussen

The expression "draussen" ("out there") could refer either to Schloss Fridau or to Zell am See, where Janko Musulin owned the guest house Fallegg, which was managed by Sonja Lanier in the period circa 1957 to circa 1965. In an e-mail from 12 January 2024, Amelie Lanier states that she has never been to Fridau.

  • Amelie Lanier
  • Re: Anfrage zu Familienmitgliedern von Lanier und von Etthofen, received by Dimitra Grigoriou
  • 2024-01-12

External Evidence: ph_021

gestrigen Ausflugs

The 1969 visit by Friedrich Heer and Stella Musulin in Kirchstetten is documented by a series of photographs taken by Musulin.

External Evidence: ph_024